In unserem zweiten Gespräch mit Geflüchteten aus der Ukraine kommt Yosh zu Wort. Sie ist Aktivistin bei der Organisation "Feminist Workshop" aus Lviv.
Bitte beachtet den Spendenaufruf am Ende des Interviews!
Hallo Yosh, erzähle uns bitte von deinem Vorkriegsleben. Wie war das Leben in deiner Stadt, wie hat es sich nach 2014 verändert?
2014 lebte ich bereits zwei Jahre in Lviv (Westukraine), da ich aus Charkiw (Ostukraine) umgezogen bin. Viele Binnenvertriebene sind dann nach Lviv geflohen, ich habe neue Freundschaften mit ihnen geschlossen, einer meiner besten Freunde und auch mein Liebespartner stammen von der Krim. Wir teilten unsere gemeinsame ostukrainische Sprache. Meine Aktivistinnen und ich haben unsere Organisation „Feminist Workshop“ gegründet.
Internationale Journalisten wollen diese Tatsache immer wieder mit den revolutionären Ereignissen von 2014 in Verbindung bringen. Ihnen scheint, dass es vor dem Maidan keine Zivilgesellschaft in der Ukraine gegeben hat. Und das ist nur ein weiteres Beispiel für eine oberflächliche, koloniale Sichtweise und auch die Wirkung der US-Propaganda.
Die reale Welt und Geschichte ist viel komplizierter. Viele Dinge beeinflussten die Gründung des „Feminist Workshop“.
Eine von vielen ist, dass Lviv eine ziemlich entspannte Stadt ist, in der man Zeit haben kann, einen Kaffee oder ein Bier zu trinken und revolutionäre Ideen zu diskutieren. Andererseits ist es eine ziemlich konservative Stadt, in der die meisten Menschen regelmäßig zur griechisch-katholischen Kirche gehen.
Und da hören sie, dass Genderthemen gleich Homodiktatur bedeuten würde. Einige der Menschen in Lviv sahen eine Gefahr für ihre Werte, weil viele Binnenflüchtlinge kamen. Wir haben dagegen gekämpft und Projekte organisiert, um Menschen zusammen zu bringen.
Was waren die Haupttätigkeitsfelder von dir und deiner Organisation? Wie habt ihr versucht, Einfluss auf die soziale Entwicklung/Gesellschaft zu nehmen? Erzähle uns bitte von einigen eurer Aktivitäten.
Unsere Mission ist: Schaffung von Raum für die Entwicklung einer feministischen Gemeinschaft in Lviv und der Ukraine. Und das nicht nur auf dem Papier. Wir haben wirklich Räume und Möglichkeiten geschaffen, um Feministinnen zu helfen, sich zu finden, zusammenzuarbeiten, Projekte zu entwickeln und umzusetzen.
Außerdem befassen wir uns mit der Theorie des Feminismus, entwickelten Ansätze und haben Feminismus populär gemacht, da er ein stigmatisiertes Phänomen in der Ukraine ist.
Das Ziel unserer Arbeit soll zur Anerkennung der feministischen Bewegung und ihrer Akteur:innen sein, um notwendige Ressourcen zu erhalten, die zur Lösung der globalen Ungleichheitsprobleme beitragen.
Mehr über unsere Arbeit findet ihr auf unserer Website https://femwork.org/about-us/ (auf Englisch).
Hast du und dein Umfeld diese Eskalation des Konflikts vorhergesehen? Hast du dich mental/körperlich auf diesen Moment vorbereitet?
Nein, wir vom „Feminist Workshop“ haben viele Dinge getan, die sich gegen Kriegsbedürfnisse richten. Wir haben einige Anti-Militarisierungs-Programme gemacht, wir haben nicht gelernt, wie man kämpft oder solche Dinge… Mit Hilfe von „Kvinna til Kvinna“, dem schwedischen feministischen Fonds, der in den Ländern mit Kriegskonflikten arbeitet, trafen wir Sinthia Enlo und nahmen ihre Ideen auf wie Militarisierung der ganzen Gesellschaft schadet und der Demokratisierung (im guten Sinne dieses Wortes) oder den Frauenrechten im Wege steht.
Wir haben Formen der Fürsorge und Sensibilität entwickelt und gepflegt, die Vielfalt unterstützen und preisen. Der Krieg braucht die entgegengesetzte Arbeitsweise, ein entgegengesetztes Sein.
Es ist grob und schnell. Man muss in der Lage sein, schnelle Entscheidungen zu treffen (im Gegensatz zum Konsensfindungsprozess), Befehle bedingungslos zu befolgen (anstatt Autoritäten in Frage zu stellen), stressresistent sein und die Fähigkeit haben, nicht zu viel zu reflektieren und zu denken.
Ich sehe diese beiden Prozesse – die Entwicklung von Menschenrechten und Vielfalt und die Vorbereitung auf den Krieg – als gegensätzlich und sich gegenseitig ausschließend. Daher erlebe ich einen persönlichen Zusammenbruch all meiner bisherigen beruflichen Errungenschaften. Nach Kriegsende werden nicht nur Gebäude zerstört sein, sondern auch Errungenschaften unserer Arbeit …
Ich denke auch, dass es unmöglich und nicht nötig ist, sich psychologisch auf den Krieg vorzubereiten. Sich vorher vielleicht umzubringen - ist das die beste Vorbereitung? Dann müsste man sich diesem verheerenden Albtraum nicht stellen.
Aber auf der anderen Seite sehe ich einen gewissen Sinn unserer bisherigen Arbeit in diesen Zeiten des Krieges. Unsere Gemeinschaft hat ihre Strukturen und Selbstvertrauen erlangt, was viel dazu beiträgt, ein schnelles System der gegenseitigen Hilfe zu organisieren.
Wie hast du die ersten Tage der Invasion und des Krieges erlebt? Wann kam der Zeitpunkt, an dem du dich zur Flucht entschieden hast?
Ich habe es nicht geglaubt, ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Krieg von solchem Ausmaß in der Ukraine wirklich stattfinden kann. Es hat mich umgehauen. Ich erlebte dies wie einen totalen Zusammenbruch aller möglichen Pläne, dass ich keine Chance habe, mit meinem Leben das zu tun, was ich mir jemals vorstellen könnte. Es ist miserabel.
Meine Eltern hatten einen Monat lang harte Bombenangriffe. Eines der wenigen wichtigen Dinge, die noch übrig sind, ist meine Gruppe in Lviv, und ich habe beschlossen, dass, wenn ich etwas retten kann, ich wenigstens meine Gruppe retten kann.
Ich bin für die strategische Planung und die Mittelbeschaffung (Fundraising) zuständig, und ich habe verstanden, dass ich diesen Job nicht machen kann, wenn ich Sirenen höre, die vor Luftangriffen warnen, und Tausende von Binnenvertriebenen treffe, die in meine Stadt kommen.
Eine Freundin mit einem Auto schlug vor, in der zweiten Kriegsnacht zu fahren. Und ich hatte auch schon eine Einladung von meinen Kollegen aus dem Projekthaus. Sie wussten, dass der Krieg beginnen wird und dass ich vielleicht einen Unterschlupf brauche. Deshalb habe ich mich entschieden zu gehen, es hat 1 Stunde gedauert, bis ich mich entschieden hatte.
Und dann 55 Stunden in der Warteschlange. Wir waren 5 Mädchen und ein Hund in einem Auto. Ich kann mein Gefühl über die Tatsache nicht ausdrücken, dass ich das Privileg habe zu fliehen, während es allen meinen männlichen Freunden verboten ist, ins Ausland zu gehen – auch nur vorübergehend.
Ich empfinde Schmerzen wegen all der Männer, die nach der dummen allgemeinen Mobilisierung in der Ukraine zurückgelassen wurden. Meine Schwester ist aus Kiew geflohen und lebt jetzt in meiner Wohnung in Lviv. Meine Eltern leben weiter bei sich zu Hause, ich habe versucht, sie davon zu überzeugen, woanders hinzugehen – sicherere Regionen oder ins Ausland, aber sie wollen nicht. Ich habe Freund:innen in der ganzen Ukraine, aber ich habe Angst, ihnen zu schreiben. Was, wenn sie ihr Zuhause verloren haben, was, wenn jemand gestorben ist?
Wenn ich das weiß, kann ich nicht weiterarbeiten. Mir reicht es, dass ich jeden Tag Nachrichten lesen muss, um internationalen Kolleg:innen die Situation zu erklären. In der Nacht habe ich manchmal Träume, in denen ich mich in einem Luftschutzbunker verstecke oder in eine Wurstfabrik gehe, wo aus den menschlichen Körpern Wurst gemacht wird. Ich muss lernen, nicht sehr sensibel zu sein für das, was während des Krieges passiert.
Wenn ich zu emotional bin, denken meine internationalen Kolleg:innen, dass ich nicht kompetent oder nicht objektiv genug bin.
Aber vor dem Krieg haben wir gelernt, sensibel zu sein, um die Welt für Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen offener und integrativer zu machen. Ich habe gelernt, dass Emotionen der integrale Bestandteil unseres Seins sind, und der feministische Ansatz besteht darin zuzulassen, dass jeder Mensch Emotionen hat, die seine Vorstellungen und sein Verhalten beeinflussen, anstatt sie zu verbergen.
Was waren die ersten Eindrücke nach deiner Ankunft hier in Potsdam. Wie fühlst du dich jetzt nach einer Zeit, in der du dich wahrscheinlich nicht viel ausruhen konntest? Setzt du deine Arbeit von hier aus fort?
Ich war dreimal in Potsdam und als ich endlich am S-Bahnhof Griebnitzsee ankam, fühlte es sich an, als würde ich irgendwo wie zu Hause ankommen. Es war so, wie ich es beim letzten Mal 2018 in Erinnerung hatte. Es war ein angenehmes Gefühl der stabilen, vertrauensvollen Landschaft Potsdams. Aber im nächsten Moment - in ein oder zwei Tagen - als ich mit der S-Bahn durch die mir vertraute Stadt fuhr, fing ich an, Übelkeit und Wut wegen dieser apathischen Oberflächlichkeit zu spüren.
Auch die Bürger Deutschlands erschienen unvorbereitet auf den Krieg. Sie bringen ihr Solidaritätsplakate zu den Sonntagsdemonstrationen, aber sie können ihre Wirtschaft, die russische Energie braucht, nicht ändern oder ihre Regierung dazu drängen, statt Greenwashing einige echte Änderungen in der Energieversorgung vorzunehmen. Diese Wut versetzt mich in Isolation.
Es ist schwer, mit Ausländern über den Krieg zu sprechen. Und da mein ganzes Leben jetzt mit Krieg zu tun hat, ist es nicht möglich, dieses Thema zu vermeiden, sobald sie ein Gespräch beginnen. Es ist schwer, einander zu verstehen, und es tut mir weh, wenn jemand, der mir hilft, gleichzeitig die grundlegenden Dinge über den Krieg nicht versteht.
Und ich will meine Zeit nicht damit verschwenden, allen alles zu erklären. Deshalb spreche ich lieber nicht mit Ausländern und wähle sehr sorgfältig aus, mit wem ich spreche. Ich nehme all meinen Schmerz, meine Wut und meine Verzweiflung, um regionale antikoloniale Solidarität aufzubauen. Ich arbeite weiterhin für meine NGO, sammle Spenden, knüpfe Kontakte, organisiere Meetings.
Ich habe nicht das Gefühl, mich ausruhen oder unterhalten zu müssen. Ich habe das Gefühl, dass ich zumindest für mich selbst eine neue Zukunft aufbauen muss, und dies erfordert enorme Anstrengungen. Wenn ich das jetzt nicht tue, werde ich am Ende des Tages nur ein weiterer osteuropäischer Flüchtling sein, dem niemand einen Job geben will und dem man Vorurteile entgegenbringt.
Tausend Dank für diese offenen und ehrlichen Worte!
SPENDENAUFRUF!
Wer der Organisation "Feminist Workshop" helfen möchte, kann gerne Spenden. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Geld zu spenden:
auf das Konto unserer Partnerorganisation in Deutschland: https://www.inwole.de/post/spendenaufruf-für-geflüchtete-ukrainische-aktivist-innen
Ganz wichtig! Im Feld "Verwendungszweck" bitte angeben: "Feminist Workshop"
Und informiert uns über die Transaktion per E-Mail (feministworkshop@gmail.com) oder DM auf Social Media
an die Spendenplattform Gofundme: https://www.gofundme.com/.../f5vzxa-war-relief-fund-for...
an unser Programm zur Prävention von sexueller Gewalt und zur Unterstützung von Frauen, die Gewalt erfahren haben (Gofundme): https://www.gofundme.com/f/qma7dh
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Das Projekt wird gefördert von der AKTION MENSCH
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